Neues Zuhause: Spitzkunnersdorf in der sächsischen Oberlausitz

vom.forstenNachdem uns nun die Befreier des zweiten Weltkrieges von unsere Heimat befreit hatten, indem sie uns, unter Wegnahme unseres Hab und Gutes aus der angestammten Heimat Schlesien hinausschmissen, trafen wir in der zweiten Augusthälfte 1946 in Spitzkunnersdorf, dem Geburtsort meines Großvaters, Bernhard Neumann, ein.
Die Einzelheiten der "Anreise" hat meine Mutter http://home.arcor.de/eulengebirge/ beschrieben. Spitzkunnersdorf, ein freundliches Dorf mit Landwirtschaft, aber auch zwei größeren Webereien und ein paar kleineren Unternehmen. Mit etwa 2500 Einwohnern zählt es zu den kleinen Dörfern im Kreis Zittau. Die größeren unter ihnen haben dreimal so viel Bewohner. Der Ort liegt in anmutiger Hügellandschaft, Ausläufern des Zittauer Gebirges. Man kann von den Anhöhen des Ortes das schlesische Isergebirge mit der Tafelfichte sehr gut sehen. Im Südwesten ist die Ortsgrenze auch Grenze zu Böhmen. Noch Monate nach Kriegsende haben sich tschechische Grenzwächter vom Warnsdorfer Spitzeberg einen Spaß daraus gemacht, nach Spitzkunnersdorf hineinzuschießen oder Pilzsucher im Forsten unter Feuer zu nehmen.

goethekopf

In dem kleinen Neumann-Gehöft, das von meinem Großonkel, Hermann Neumann mit seiner Frau, Lina geborene Ebermann, bewirtschaftet wurde undneumann.gut.25 gerade mal 5 Hektar Ackerfläche hatte, waren bei unserem Eintreffen versammelt:
Die Großeltern, Berta und Bernhard Neumann, mein Vater Fritz Leistritz (verwundet aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft entlassen), mein Onkel Helmut Neumann, ebenfalls verwundet aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft entlassen (er hatte im April 1945 bei Sangerhausen noch den rechten Arm eingebüßt) und nun noch wir drei, meine Mutter Dora Leistritz mit uns Kindern, Edith und Wolfgang. Das kleine Gehöft hatte auf einmal 9 Personen unterzubringen und zu versorgen. Onkel Hermann und Tante Lina bin ich heute noch sehr dankbar, daß sie uns alle, ohne zu zögern, damals aufgenommen haben. Die "Zugereisten" edith.wolfgang.47versuchten schnellstens, wieder eine eigene Existens aufzubauen. Großvater Bernhard führte die Wirtschaft auf dem Nachbargehöft (Stolpauer), wo der Bauer im Krieg geblieben war, Vater Fritz fand, als gelernter Buchhalter, eine Anstellung auf dem Spitzkunnersdorfer Gemeindeamt, Onkel Helmut wurde Versicherungsvertreter der "Versicherungsanstalt des Landes Sachsen" und unsere Mutter Dora nutzte ihr handwerkliches Geschick und nähte für die Nachbarn, später für viele Frauen aus dem Dorf, aus alten Klamotten neue Kleider. Ihre Gewerbeanmeldung lautete übrigens auf "Flickschneiderin", da sie den Schneiderberuf nie gelernt hatte. Später gab ich in der Schule, bei einer Befragung, diese Berufsbezeichnung ehrlich an und wurde ausgelacht und verspottet. Da gewann ich die Lebenserfahrung, daß die Ehrlichkeit nicht immer zu genau genommen werden sollte.
Hätte ich Schneiderin gesagt, hätte ich auch nicht gelogen und der Spott wäre unterblieben! Übrigens war es ein hartes Brot für Mutter. Für ein Kleid nahm sie 8 Mark Schneiderlohn. Sie hatte immer Probleme mit den Maßen ihrer Kundinnen. Waren die Körperdimensionen vor Feiertagen genau ermittelt und der, meist knappe Stoff zugeschnitten, so stimmten dann die Maße nach den Feiertagen oft nicht mehr. 

Im Septenber 1946 mußte ich wieder neu in die 1. Klasse der Grundschule eintreten, hätte aber eigentlich schon in die 3. Klassewl.47 gehen müssen.  Ich konnte schon recht gut lesen und das OMA AM OFEN usw. langweilte mich. So verriet ich meiner Klassenlehrerin, Fräulein Ulbricht, daß ich die Texte im Lesebuch, die weiter hinten standen, auch schon lesen konnte. Sie setzte sich zu mir in die Bank und ließ sich vorlesen. Ihr Urteil: "Morgen gehst Du in die 2. Klasse zu Fräulein Steudtner."
Später bin ich dann noch einmal von der 4. in die 5. Klasse "gesprungen". So konnte ich dann 1952, nach 6 Jahren Schule, mit den anderen Schülern des Jahrgangs 1938 die Grundschule mit der 8. Klasse abschließen. Da ich im November geboren bin, verließ ich die Grundschule mit 13 Jahren. Meine Schwester Edith trat dann 1947 ein und schloss die Grundschule nach 8 Jahren, 1955, ab.
Der "Lehrkörper" der Spitzkunnersdorfer Grundschule bestand fast komplett aus Neulehrern, da die vor 1945 tätigen Erzieher, mit Ausnahme der Handarbeitslehrerin und des Musiklehrers, ausgewechselt wurden. Gern erinnere ich mich an den Lehrer Wuttke, der uns im Geschichtsunterricht mit Begeisterung die alten Römer und Griechen nahe brachte. Auch bei Herrn Klaus und Herrn Hänisch und der Russischlehrerin, Frau Fritzenwanker (eine Ostpreußin), habe ich gern Unterricht gehabt.
Wir fanden auch bald Anschluß an die Nachbarkinder und schlossen Freundschaften, Edith mit Christine Röthig und ich mit Hans-Jürgen Pohl. Die Nachbarn Röthig, Pohl, Hauptmann (Paul und Walter), Jeremias, Köhler (Bäcker), Loose - später Dorn möchte ich besonders dankbar erwähnen. Für sie waren wir keine lästigen Habenichtse, sondern sie nahmen uns hilfsbereit in die Dorfgemeinschaft auf. Zu den Kindern, mit denen wir spielten oder anderweitig Kontakt hatten, gehörten auch Johanna Jeremias, Frank Hauptmann, Roland Haußig ("Hausch` Kurtl"), Ernst Wauer, Siegfried Kretschmer, Peter Elger, Klaus Lehmann ("Böckl") u. a.
Natürlich waren manche Sitten und Gebräuche etwas anders als im heimatlichen Schlesien. So rief es großes Erstaunen bei unserer Mutter hervor, daß vor Feiertagen (Ostern, Pfingsten, Kirmes, Weihnachten) die Frauen des Dorfes mit ihren Backzutaten, meist im Handwagen, zum Bäcker (im Oberlausitzer Dialekt: "Bekn") fuhren und ihre Kuchen gemeinsam mit dem Bäcker bereiteten. Diese wurden dann auf den großen Bäckerblechen im Backofen auch abgebacken und nach dem Abkühlen auf entsprechend große Holzbretter verfrachtet und mit diesen von den Frauen nach Hause gefahren. Übrigens versteht man in der Oberlausitz sehr schmackhafte Kuchen zu backen. Kleckskuchen ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Großmutter hatte ihre Kuchenrezepte aus Schlesien mitgebracht, Streuselkuchen, Mohnstrietzel, Grießkuchen, Torte nach "Frau Wachtmeister" und Napfkuchen waren die Spitzenprodukte, sie werden von meiner Frau Christine weiterhin gebacken, nach Großmuttels Rezepten.
Großmuttel und Mutter konnten sich nicht daran gewöhnen, daß man in der Oberlausitz die Anrede "Tante" oder "Onkel" im Allgemeinen wegließ. Es war gewöhnungsbedürftig, wenn so ein kleiner Dreikäsehoch zu Großmuttel einfach "Berta" sagte. Wie gesagt, die Schlesier gewöhnten sich nicht daran und verlangten die "Tante" und den "Onkel" dazu. So wurde von den Oberlausitzer Verwandten dann die Anrede entsprechend ironisch betont.

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